Auf dem Weg vom Azubi zur Führungskraft helfen familiäre Führungskompetenzen. Sie sind ein unterschätztes Potential im Unternehmen.

Als ich mit Enno M. vor einigen Jahren das erste Mal arbeiten durfte, wurde er mir vom Geschäftsführer als junger, aufstrebender Manager anvertraut. Er hatte in dem mittelständischen Unternehmen als Auszubildender angefangen, sich „hoch gearbeitet“, nebenbei ein duales Studium absolviert und befand sich damals in seiner ersten Führungsposition. Das Unternehmen und auch der Geschäftsführer waren ihm von Kindesbeinen an vertraut. Bereits sein Vater hatte dort gearbeitet. Und als kleiner Junge hatte Enno auf dem Hof gespielt.
Meine Aufgabe als Coach war es, ihn in der neuen Rolle als Führungskraft zu begleiten. Firmeninterne Aufstiege sind in vielen Fällen eine Gratwanderung. Auch in seiner Abteilung war die Stimmung nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Er spürte skeptische und auch neidische Blicke. Oftmals dachte er, dass man ihm die Rolle als Chef nicht zutraute. Manchmal gingen seine Mitarbeiter einfach ohne ihn zum Mittagessen. Er fühlte sich ausgegrenzt.
Wir arbeiteten damals mit meinen „üblichen“ Coaching-Werkzeugen. Da ging es um Ziele, Ressourcen, Werte. Zum Beispiel, wie er sich selbst als Chef erlebt. Wir entdeckten einige Glaubenssätze, die ihn einschränkten. Zum Beispiel: Mich sehen alle noch immer als den „kleinen Azubi“. Er lernte seine Unsicherheit bei Entscheidungen zu überwinden und seinen Mitarbeitern Sicherheit zu vermitteln. Er lernte Regeln für ein wirksames Feedback sowie Grenzen zu setzen und Aufgaben zu delegieren. Was ihm u.a. dabei half, war seine Klarheit, mit der er im privaten Bereich bei Konflikten die Themen ansprach: sich selbst und seine „Befindlichkeiten“ zu erklären – zum Beispiel seiner Frau gegenüber. Das wollte er auf den beruflichen Bereich übertragen.
Enno M. ging mit einem Fazit aus der Arbeit, dass er „grundsätzlich“ bestens gerüstet sei. Dennoch blieb damals noch der Rest eines Gefühls, sich am Eingang zum Unternehmen die Führungsrolle jeden Tag wie einen Mantel überziehen zu müssen, der ihm zu groß ist. Er heiratete bald und wurde binnen drei Jahren zweimal Vater. Nun führte mich ein Auftrag wieder zu ihm, und zwar nach der unternehmerischen Entscheidung, dass er Geschäftsführer werden sollte.

„Family Business“ im Coaching
Ich entwickelte in den zurückliegenden Jahren ein Konzept, das ich „Family Business“ nenne und mit dem ich immer häufiger im Unternehmenskontext arbeitete. Es ging bei Enno gewissermaßen darum, wie in einer Änderungsschneiderei den „Führungs-Mantel“ für ihn passend zu machen. Und zwar indem ihm die Parallelen zwischen seiner neuen Rolle als Vater und seiner Rolle als Führungskraft bewusstwurden.
Eine Führungskraft ist Kommunikator, Motivator, Begleiter, Kritiker, Vorbild, Impulsgeber und vieles mehr. Sie trägt Verantwortung für das unternehmerische Ziel und dafür, dass seine Mitarbeiter es erreichen. Sie muss er sie fordern und fördern. Das heißt, sie muss sie gut kennen – fachlich und menschlich.
Auch als Eltern sind wir Manager eines hochkomplexen Familienalltags. Wir haben Verantwortung für die Kinder, sind Kommunikator, Motivator, Begleiter, Kritiker, Vorbild, Impulsgeber und vieles mehr. Wir fordern und fördern unsere Kinder. So erscheint es logisch, Führungskompetenzen aus dem Familienleben in den geschäftlichen Lebensbereich zu übertragen.
Ich kam auf die Idee, weil ich im Coaching und Training mit Führungskräften entstanden zur Erläuterung bestimmter Führungsthemen immer wieder Beispiele aus meinen Alltagssituationen als Mutter anführte. Und ich merkte, wie viele Führungskräfte dabei ein Aha-Erlebnis hatten, das die Arbeit dann erleichterte. Weil sie als Väter und Mütter ähnliche Erfahrungen machen.

Wer erwartet Perfektion?
So ergeht es auch Enno M. Ich spürte von Anfang an, wie wichtig Enno M. seine neue Rolle als Vater ist. Oft erzählt er von sich aus von „zu Hause“. Ich fragte ihn, ob er seine Vaterrolle als „Führung“ verstehe. Er bejahte voller Enthusiasmus. Das hilft uns bei bestimmten Themen, zum Beispiel zur Problematik „Perfektion“.
So berichtete ihm ein Mitarbeiter, Herr S., dass ein langjähriger Kunde Probleme mit dem Preis eines wichtigen Produktes hat. Der Kunde drohte, zu einem anderen Händler zu wechseln. Herr S. wollte „schnell“ von seinem Geschäftsführer wissen, wie er reagieren kann, damit der Kunde dem Unternehmen erhalten bleibt. Der Druck ist förmlich zu spüren, als Enno M. diese Episode erzählt. „Ich kenne mich in dieser operativen Preispolitik nicht hundertprozentig aus. Und auf die Schnelle weiß ich schon gar nicht, was ich Herrn M. antworten kann.“
Was fühlt und wie denkt er in dieser Situation? Enno M.: „Ich fühle mich absolut klein und inkompetent. Ich glaube, dass Herr S. nun bestätigt bekommt, dass ich nicht gut genug für den Job als Chef bin. Der erwartet doch, dass sein Chef perfekt ist und alles weiß und kann.“
Ich schaue Enno M. an: „Herr M., wieso glauben Sie, dass Herr S. in jeder Hinsicht und auf jedem Gebiet Perfektion von Ihnen erwartet?“
Enno M. sagt, das sei so ein „Gefühl“. Genau wisse er es natürlich nicht. Und dann sagt er: „Ich erwarte das ja auch von mir selbst. Ich möchte keine Schwächen, Defizite und Fehler zeigen. Das kommt nicht gut an, wenn man Chef ist.“
Wir arbeiten mit seinem Anspruch an Perfektion, erkunden den Unterschied zwischen „gut gerüstet“ und „perfekt“ zu sein. Und wie perfekte Menschen auf ihn wirken. Mein Klient stellt verblüfft fest, dass er sehr, sehr ungern mit ihnen arbeiten würde, auch nicht mit einem solchen Chef. Und wir schauen weiter, wie es bei ihm zu Hause ist, wenn es einmal nicht so „perfekt“ wie gedacht läuft. „Was fühlen Sie, was denken Sie, wenn Sie sich einmal als nicht perfekt erleben?“

Sich als Lernender zeigen
Enno M. erzählt, wie sein kleiner Sohn ihn Löcher in den Bauch fragt. Und wie er spüre, dass sein Sohn glaube, Papa wisse einfach alles. Wie der liebe Gott! „Manchmal nehme ich ihn dann auf den Schoß und erkläre ihm, dass ich natürlich nicht alles weiß“, erzählt mein Klient. „Dann schlagen wir etwas nach oder gehen zum Opa. Nach solch einer Tour sagte mein Sohn einmal: ‚Der Opa weiß mehr als der liebe Gott!’ Das ist völlig okay für mich. Ich fühl mich gut dabei.“
Enno M. erkennt in diesem Gespräch, dass es ihm überhaupt nichts ausmacht, sich selbst als ein Lernender zu zeigen – auch in der Rolle als „Führungskraft“. Im Gegenteil. Er findet es sogar wichtig, seinem Söhnchen zu zeigen, dass niemand perfekt sein muss. An dieser Stelle hält er folgendes für sich fest:

  • Die Erwartung perfekt sein zu müssen ist Produkt meiner eigenen Gedanken, nicht der Gedanken meines Mitarbeiters.
  • Perfektion (auch: so tun als ob) wirkt unsympathisch und demotivierend auf andere.
  • Ein „Chef“ darf sich als Lernender zeigen und mit dem Mitarbeiter die Lösung finden.
    Meinem Klienten ist die Erleichterung über seine Erkenntnisse deutlich anzusehen. Ihm gefällt der Gedanke, seine Mitarbeiter künftig in die Lösung eines Problems mit einzubeziehen. Und wir erarbeiten noch, wie das geschehen kann. Zum Beispiel, indem er eine Frage zurückgibt: Wie würden Sie denn reagieren? Was ist Ihre Erfahrung in einer solchen Situation? Enno M. geht mit der Einsicht, dass er zu Lücken in seinem Wissen und Können stehen kann. Ohne an Autorität zu verlieren – weder als Vater noch als Chef. Und siehe, der Mantel passt.
  • Veröffentlicht in: Praxis Kommunikation; Angewandte Psychologie in Coaching, Training und Beratung – Heft 4/2017